Nachfolgend eine Abhandlung mit Text im wesentlichen aus: Uwe Fliegauf: „Der Volkswagen wäre nicht mehr nötig gewesen“. Das Autoprojekt der Schwäbischen Hüttenwerke in Böblingen, in Momente. Beiträge zur Landeskunde Baden-Württemberg, Heft 2/2003, Seite 4-10.
Das Unternehmen wurde am 21. Mai 1921 in Oberhausen durch Gesellschaftervertrag zwischen dem württembergischen Staat und der Gutehoffnungshütte gegründet. (Es ist übrigens der älteste noch existiererende Industriebetrieb Deutschlands) Die ersten Geschäftsjahre waren durch die Folgen der wachsenden Inflation überschattet. Die angestammten Geschäftsfelder – Eisengießerei, Walzenguss und Maschinenbau – erwirtschafteten damals nur bescheidene Gewinne und so war die Geschäftsführung gezwungen, nach profitablen Investitionsprojekten Ausschau zu halten, mit deren Erträgen sich die traditionellen und teilweise defizitären Produktionsbereiche finanziell stützen ließen. Vor diesem Hintergrund erwarb das Unternehmen im Januar 1924 die Aktienmehrheit an der Böblinger Werft A.G., einer ehemaligen Flugzeugfabrik, die in der Nachkriegszeit erfolglos auf Kleinmotorenfertigung umgestellt worden war.

SHW-Hauptgeschäftsführer Hermann von Rösch plante, in den gut erhaltenen Werksanlagen eine Stahlformgießerei mit Landmaschinenfabrik zu errichten. Dagegen wollte Kommerzienrat Paul Reusch (1868-1956), der als Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte zu den Mitgesellschaftern der SHW gehörte, das Aktienpaket schnell verkaufen, um die angespannte betriebliche Liquiditätslage zu verbessern. Hermann von Rösch konnte sich zunächst über die Bedenken hinwegsetzen und so begann 1924/25 die kurze Geschichte des Werks Böblingen.
Landwirtschaftliche Geräte
Anfangs wurden landwirtschaftliche Produkte, wie Obstmühlen, Obstpressen, Schlepper und Motorpflüge hergestellt.




Gebaut wurde auch ein 16 PS Raupenschlepper, der vom Bauern je nach Bedarf zum Radschlepper umgebaut werde konnte. Diese Umstellmöglichkeit wurde patentiert (alle Foto Wirtschaftsarchiv Hohenheim B 1009 Bü 179)







Autobau
An einen Fahrzeugbau hatten die Beteiligten zunächst nicht gedacht, doch der designierte Werksdirektor Wunibald Kamm (1893-1966) – der nach 1930 zu den einflussreichsten deutschen Automobilkonstrukteuren zählte – brachte diese Idee und einen entsprechenden Versuchswagen mit.

Die Geburtsstunde des SHW-Wagens fiel allerdings in eine wirtschaftlich ungünstige Zeit, es fehlte an kaufkräftiger Nachfrage, Serviceeinrichtungen und Straßen. Um wirtschaftlich überleben zu können, konzentrierten sich die Hersteller entweder auf den Bau teurer und luxuriöser Modelle oder sie versuchten, über die Fertigung günstiger Kleinwagen breite Käuferschichten anzusprechen. Der SHW-Wagen, den Kamm entwickelte, zielte in die zweite Richtung. Dabei handelte es sich um einen spartanisch ausgestatteten, aber ausreichend motorisierter Kleinwagen, der auf der Grundlage einer kostengünstigen und damit wettbewerbsfähigen Serienproduktion hergestellt werden sollte.
Das junge und unkonventionelle Expertenteam, das sich in der Böblinger Versuchswerkstatt an die Arbeit machte, schuf eine richtungsweisende Konstruktion mit Vorderradantrieb, Einzelradaufhängung und Vierradbremssystem und selbsttragender Leichtmetallkarosserie. Diese Karosserie wurde als – sebsttragender Wagenkasten für Kraftfahrzeuge – am 25. November 1925 patentiert.





Bei den den Fachleuten fand der Wagen großen Anklang und wurde hoch gelobt. Die Allgemeine Automobilzeitung beschrieb einen Fahrzeugprototyp, der 1925 auf der Automobilausstellung 1925 in Berlin vorgestellt wurde, als eine „ganz merkwürdige, neuartige und viel Aufsehen erregende Kleinwagenkonstruktion“.










In einer Beilage der Württemberger Zeitung Nr.49 vom 07. Dezember 1926 wurde folgendes berichtet: „In dieser Hinsicht ist auch der 4/20 PS-Wagen der Schwäbischen Hüttenwerke G.m.b.H., Böblingen, eine sehr interessante Neuerscheinung. Der Antrieb erfolgt hier durch die Vorderräder unter Vermittlung zweier Kegelrad-Paare und einer Nutenschiebewelle. Es ist damit die denkbar möglichste Verkleinerung des unabgefederten Gewichts, die Beschränkung der Maschinenanlage auf den vor der Spritzwand liegenden Teil des Wagens, die denkbar tiefste Schwerpunktlage für die Insassen und reichliche Bemessung des Sitzraumes erreicht. Außerdem ist die Trennung zwischen Chassis und Karossrie aufgehoben, indem der ganz aus Blechteilen gepreßte Kasten zugleich als Rahmen dient, die Räder sind unter Fortlassung schwerer Achsen einzeln an Auslegerböden des Wagenkastens federnd, die Vorderräder außerdem drehbar aufgehängt; alle vier Räder werden gebremst. Die Federung besteht aus vollständig gekapselten und mit Rückstoßdämpfern versehenen Schraubenfedern. Das Getriebe ist ein Viergang-Sodengetriebe der Zahnradfabrik Friedrichshafen mit Lenkrad-Gangwähler. Es ist klar, daß diese immerhin radikale Neukonstruktion, die von Dr.Kamm ausgeht, gerade auch für die Großserien-fabrikation außerordentliche Vorteile bieten muß. Die Frage ist nur, ob das Kapital heute aufzubringen sein wird, das nötig ist, um diese von Fachleuten viel beachtete neue Wagenart im Großen herstellen und durchsetzen zu können.“
In einem Bericht der Schwäbischen Hüttenwerke vom 11. Dezember 1925 von der Automobilausstellung 1925 in Berlin findet sich folgender bemerkenswerte Kommentar: „Das positive Ergebnis der Ausstellungsbeschickung ist, dass der S.H.W.-Wagen vor der Fachwelt und dem Publikum Anerkennung gefunden hat als der Wagen, der dem Bedürfnis nach einem guten und billigen Volkswagen zu entsprechen und einen erfolgreichen Wettbewerb gegenüber den ausländischen Fahrzeugen aufzunehmen imstande ist, ein Eindruck, der sich bei Besichtigung gleichzeitig in Berlin abgehaltenen Internationalen Automobilausstellung als richtig erwiesen hat.“
Allerdings wuchsen allerdings bei den SHW-Gesellschaftern die betriebswirtschaftlichen Bedenken. Die hohen Entwicklungskosten, der hohe Investitionsbedarf bis zur Aufnahme der Serienproduktion und nicht zuletzt die unsichere Lage am Absatzmarkt führten 1926 zur Aufgabe der Landmaschinen- und Automobilproduktion und zur Liquidation des Werks. Das Werk wurde dann wieder in seiner ursprünglichen Bestimmung als Werft an den Luftverkehr Württemberg übergeben.
Drei Prototypen wurden gebaut:
Kennzeichen III C 2200 – offener Wagenkörper mit Limousinenaufbau, Stahlspeichenräder, Kegelradantrieb. Dieser Wagen ist verschollen.
Kennzeichen III C 2201 – offener Wagenkörper mit Verdeck, Scheibenräder, Kegelradantrieb. Dieser Wagen ist verschollen.
Kennzeichen III C 2203 (jetzt III A 8836) – offener Wagenkörper ohne Verdeck (seit 1938 Stahlspeichenräder), Gelenkwellenantrieb. Diesen Wagen hat W.Kamm bis 1932 in Berlin und Stuttgart auf größeren Reisen gefahren. 1937 kam er ins Deutsche Museum nach München. (siehe unten)
Ferdinand Porsche, damals Chefkonstrukteur bei Daimler-Benz, testete den SHW-Wagen und war sehr angetan. Er empfahl seinem Vorstand, SHW zu kaufen, wenn es zu einem produktionsreifen Wagen käme. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Kamm, bevor er zu den Schwäbischen Hüttenwerken wechselte, unter Paul Daimler und Ferdinand Porsche bei Daimler arbeitete.
Nicht unerwähnt sollte das Interesse von BMW an SHW bleiben:
Nachdem Mitte der 20er Jahre weltweit die Auto-Produktion stetig zunahm, machte sich auch BMW Gedanken über einen Einstieg ins Automobilgeschäft. Der Vorstandsvor-sitzende Franz-Josef Popp kam in seinen Überlegungen zu der Erkenntnis, dass nur eine Massenfabrikation nach amerikanischen Vorbild es den deutschen Volk ermöglichen würde, an den Segnungen einer Volksmotorisierung teilzunehmen. Um das realisieren zu können, mußte ein in genügender Stückzahl hergestellt werden können und durfte nicht mehr 1.000 $ kosten. Um keine Zeit zu verlieren war ein geeignetes – möglichst vorhandenes Produkt und natürlich die Möglichkeit der Eigenfertigung oder die Beteiligung an einem deutschen Automobilunternehmen voraus.
Verhandlungen über einen schlagkräftigen süddeutschen Automobilkonzern unter Beteiligung der Firmen Daimler, Benz und BMW zogen sich bis weit in das Jahr 1926 hinein. Viel zu lange für BMW und so traf es sich gut, dass er durch einen Tipp auf den SHW-Wagen in Böblingen aufmerksam wurde. Die bauliche Einfachheit bei entsprechender Stückzahl veranlasste Popp den Schwäbischen Hütten Werken eine Beteiligung am SHW-Wagen anzubieten ( zu dieser Zeit war Camillo Castiglioni, einer der reichsten Männer Europas und BMW-Finanzier). 3 Prototypen wurden gebaut. Aber bald trat etwas Unerwartetes ein – die Böblinger Flugwerft ging nach der Lockerung des Flugzeugverbots in Deutschland zurück an den Flugverkehr Württemberg. Damit verlor der Direktor der Schwäbischen Hütten-Werke jegliches Interesse an einer Produktionserweiterung. Popp hatte zwar ein Produkt mit Perspektive, aber keine Produktionsmöglichkeit. Und trotz weiterführender Tests und erfolgreicher Beteiligung an Zuverlässigkeitsfahrten nahm BMW auf einer eigens einberufenen Generalversammlung im Juli 1928 endgültig Abschied von S.H.W. BMW suchte weiter nach Beteiligungen und stieg schließlich mit der Übernahme des Dixiwerkes in Eisenach in das Automobilgeschäft ein. Am 01.März 1928 wurde die „BMW Aktiengesellschaft, Zweigniederlassung Eisenach“ gegründet.
Auch in der Folgezeit gelang es Kamm, der zwischenzeitlich in der Flugzeugentwicklung tätig war, nicht, einen Investor für sein Automobilprojekt zu finden. Später bedauerte er es sehr, nicht nachdrücklicher auf die Realisierung dieses Automobilprojekts hingewirkt zu haben: „Einiges war bei uns schon damals besser als es heute gelöst ist, vor allem auch die unübertreffliche Einfachheit als Grundlage für den billigen Bau. Es tut mir leid, daß ich seinerzeit nicht noch zäher für die Einführung dieses Wagens eingetreten bin […] Der Volkswagen wäre nicht mehr nötig gewesen.“
Einer der drei Prototypen Kennzeichen III C 2203 (jetzt III A 8836) kam Ende der 20er Jahre ins Deutsche Museum, in den 40er Jahren wieder in die SHW zurück und wurde 1969 an die staatiche Ingenieursschule Aalen ausgeliehen. In den Jahren 1981 bis 1987 wurde der SHW-Wagen in den Werkstätten des Deutschen Museum von BMW Auszubildenden in 7000 Arbeitsstunden wieder hergerichtet und steht seitdem im Deutschen Museum.
1969 Staatliche Ingenierschule Aalen
1981 nach München

1987 war es dann soweit – der Wagen war restauriert: Ein Wagen steht im deutschen Museum in München (DER SPIEGEL 31/1987 vom 27.07.1987, Seite 155d WISSENSCHAFT + TECHNIK) Auto-Zukunft von gestern
„Das Vehikel stellte alle zeitgenössischen Vierrädler der 20er Jahre technisch in den Schatten: Es besaß eine selbsttragende Karosserie aus Aluminium, verfüge über Frontantrieb und, auch das ein Novum in jener Zeit, über einzeln aufgehängte Räder. Doch nur drei der von dem Stuttgarter Ingenieur Wunibald Kamm 1924 konstruierten und in den Schwäbischen Hüttenwerken gebauten „SHW“-Wagen verließen je die Werkshallen. Als der bayrische Flugmotoren- und Motorrad-Konzern BMW 1928 nach einem Fahrzeugtyp suchte, der die Produktpalette um Kraftfahrzeuge erweitern sollte, erschien den Münchner Ingenieuren das Kamm-Konzept noch als zu gewagt. So blieb dem Wagen, der in seinen Fahreigenschaften den mit Starrachsen und Heckantrieb ausgerüsteten Motorkutschen der 20er Jahre deutlich überlegen war, 1937 nur der Weg ins Deutsche Museum. Seit Ende voriger Woche kann das letzte verbliebene Kamm-Mobil, von BMW-Auszubildenden in 7000 Arbeitsstunden restauriert, im Museum an der Isar wieder besichtigt werden.“


Schreckensnachricht am 11. Oktober 2019 Bei einem Brand in einer Lagerhaller in Ingolstadt, in dem auch viele Exponate des Deutschen Museums München eingelagert wurden, darunter auch der SHW-Wagen, ist ein beträchtlicher Schaden entstanden. Die Verbrennungs-rückstände, der Ruß und das Löschwasser, das bei dem Brand auf die Oberflächen der Exponate gelangten sind Gift für die Exponate. Weil in den Halle zuletzt eine Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent und mehr herrschte, hat sich an vielen Exponaten bereits großflächig Rost gebildet. Äußerlich sind dem Wagen keine großen Schäden anzusehen.
